Gezielte Werbung für Chatkontrolle: noyb-Beschwerde gegen EU-Kommission
noyb hat heute eine Beschwerde gegen die EU Kommission (Generaldirektion Migration und Inneres) eingereicht. Im September 2023 nutzte die Behörde Micro-Targeting auf Twitter (X), um die umstrittene Chatkontrolle zu bewerben. Es dürfte sich um einen verzweifelten Versuch der EU-Kommission handeln, öffentliche Unterstützung zu finden und nationale Regierungen dazu zu drängen, den Gesetzesvorschlag zu akzeptieren. Damit wurden sowohl die etablierten demokratischen Verfahren zwischen den EU-Institutionen untergraben als auch gegen die EU-DSGVO verstoßen.
Massive Gegenwehr und mangelnde Unterstützung. Die vorgeschlagene EU-Verordnung zur Chatkontrolle ist wohl eine der umstrittensten Verordnungen seit langem. Kritiker:innen befürchten, dass das Gesetz die gesamte verschlüsselte Online-Kommunikation untergraben – und der Massenüberwachung Tür und Tor öffnen könnte. Kritik an den Plänen kam sowohl von Vertreter:innen der Industrie, der Zivilgesellschaft, Wissenschaft, den Mitgliedstaaten und den juristischen Diensten der europäischen Institutionen. Die Verhandlungen in Brüssel schreiten dennoch voran, und die EU-Kommission drängt auf eine baldige Verabschiedung.
Micro-Targeting mit sensiblen Daten. Teil dieses augenscheinlich aggressiven Versuchs, die Chatkontrolle zu bewerben und die öffentliche Meinung zu manipulieren, war eine zielgerichtete Werbekampagne auf X (ehemals Twitter) im September 2023. Während Online-Werbung nicht per se illegal ist, hat die EU-Kommission Nutzer:innen gezielt aufgrund ihrer politischen Ansichten und religiösen Überzeugungen angesprochen. Konkret wurden die Anzeigen nur Personen angezeigt, die nicht an Stichworten wie #Qatargate, brexit, Marine Le Pen, Alternative für Deutschland, Vox, Christian, Christian-phobia or Giorgia Meloni interessiert waren. Die EU-Kommission hatte zuvor selbst Bedenken hinsichtlich der Verwendung persönlicher Daten für das Micro-Targeting geäußert und die Praxis als "ernsthafte Bedrohung für einen fairen, demokratischen Wahlprozess" bezeichnet.
Irreführende Meinungsumfragen. Der niederländische Beschwerdeführer wurde mit einem X-Posting konfrontiert. In diesem wurde behauptet, dass 95 Prozent der niederländischen Bevölkerung der Meinung seien, dass die Aufdeckung von Kindesmissbrauch im Internet wichtiger oder genauso wichtig sei wie ihr Recht auf Privatsphäre. Medienberichten zufolge sind diese Statistiken irreführend. Sie beruhen lediglich auf Meinungsumfragen der EU-Kommission. Negative Auswirkungen einer Chatkontrolle wurden gegenüber den Teilnehmer:innen demnach mit keinem Wort erwähnt.
Eine Beschwerde gegen die EU-Kommission. Die Werbekampagne der Kommission, die sogar von X als irreführend bezeichnet wurde, verstieß auch gegen europäisches Datenschutzrecht. Die politischen Meinungen und religiösen Überzeugungen von Menschen genießen laut EU-DSGVO besonderen Schutz. Dennoch wurden genau diese Datenkategorien für die Werbekampagne verwendet. noyb hat deshalb eine Beschwerde gegen die EU-Kommission beim Europäischen Datenschutzbeauftragten (EDSB) eingereicht – und prüft derzeit eine Beschwerde gegen X. Immerhin hat die Plattform die unrechtmäßige Nutzung persönlicher Daten für das Micro-Targeting erst ermöglicht.
Felix Mikolasch, Datenschutzjurist bei noyb: „Die EU-Kommission hat keine Rechtsgrundlage für die Verarbeitung sensibler Daten für gezielte Werbung auf X. Niemand steht über dem Gesetz und die EU-Kommission ist keine Ausnahme.“
Sogar X verbietet eine solche Nutzung persönlicher Daten. Die Social-Media-Plattform X gibt in ihren Werberichtlinien an, dass politische Zugehörigkeit und religiöse Überzeugungen nicht zum Zweck des Werbetargetings verwendet werden dürfen. Die Kampagne der EU-Kommission wurde dennoch an hunderttausende Menschen in den Niederlanden ausgespielt. Der betreffende Beitrag ist weiterhin hier zu finden.
Maartje de Graaf, Datenschutzjuristin bei noyb: „Es ist unfassbar, dass die EU-Kommission sich nicht an das Gesetz hält, das es erst vor wenigen Jahren mit institutionalisiert hat. Außerdem behauptet X, die Verwendung sensibler Daten für Werbetargeting zu verbieten – unternimmt aber nichts, um dieses Verbot tatsächlich umzusetzen.“
Eine Bedrohung für die Demokratie. Die EU-Kommission scheint versucht zu haben, die öffentliche Meinung in Staaten wie den Niederlanden zu beeinflussen, um die Position der nationalen Regierungen im EU-Rat zu untergraben. Ein solches Verhalten – insbesondere in Kombination mit illegalem Micro-Targeting – ist eine ernsthafte Bedrohung für den EU-Gesetzgebungsprozess und widerspricht der Absicht der Kommission, politische Werbung transparenter zu machen. noyb fordert den EDSB auf, diese Angelegenheit gemäß der EU-DSGVO zu untersuchen. In Anbetracht der Schwere der Verstöße und der großen Anzahl betroffener Personen schlägt noyb außerdem vor, eine Geldstrafe zu verhängen.